ORTSGESCHEHEN
"Die Themen Gewalt und Jugendstrafrecht beherrschen derzeit Gespräche und Schlagzeilen. Auslöser war die Gewalttat in der Münchner U-Bahn. Als ich mir das Thema aussuchte, war von diesem Thema noch nicht viel die Rede. Jetzt bin ich in der Zwickmühle, in die aktuelle Diskussion einbezogen zu werden:
"Eine emotional aufgeladene Zeit" – eine Überschrift zur Erklärung einer Gewalttat an Weihnachten. Und viele Gründe familiärer Art, Gewalt in der Familie, keine schöne Kindheit, müssen als Erklärung herhalten. Umso mehr reizt dieses Thema Gewalt. Das Historische Wörterbuch zur Philosophie versteigt sich sogar zu der Aussage, dass das Phänomen der Gewalttätigkeit in zunehmendem Maße von psychoanalytisch oder ethologisch orientierten Theorien der Aggression, von Konfliktsoziologen und Friedensforschern abgehandelt wird, wobei das durch die Geschichte des Gewaltbegriffs erreichte Diskussionsniveau nicht immer erhalten bleibt.
Steigen Sie also mit mir ein in eine Sicht des Themas Gewalt, die als Quintessenz nicht darin endet: Man braucht härtere Gesetze, die jetzigen genügen, man muss nur alles besser anwenden, schneller ausweisen, die Vorfälle werden missbraucht für ... usw. Erheben wir uns ein wenig über diese Schlussfolgerungen und reduzieren Gewalt einmal nicht auf Gewalttätigkeit.
Das deutsche Wort Gewalt leitet sich aus der indogermanischen Wurzel "val", lateinisch valere, ab und heißt ursprünglich: Verfügungsfähigkeit haben. Es meint also zunächst das Vermögen zur Durchführung einer Handlung, denken wir nur, welch gewaltiger Anstrengungen es bedarf, die Klimakatastrophe abzuwenden, oder welch gewaltige Dimension eine Leistung hat, die über das übliche hinausgeht. Wir sprechen auch vom Gewaltmonopol des Staates, um etwa das Zusammenleben der Menschen zu regeln; und von Gewaltenteilung im demokratischen Staat.
Uns begegnet "Gewalt" als Begriff eher im negativen Sinn: als schädigende Einwirkung auf andere, unter der Formulierung Gewalttat, gewalttätige Gruppe, gewaltbereite Autonome, Gewaltverbrechen, Verherrlichung der Gewalt in Videos, Vergewaltigung oder auch seelische Gewalt. Diesem Begriff der Gewalt korrespondiert der der Gewaltlosigkeit und des gewaltfreien Widerstands, personalisiert in Mahatma Gandhi in Indien in seinem Kampf gegen die britische Herrschaft.
Der Begriff "Gewalt" ist so in Verruf gekommen und die momentan einzige Ehrenrettung ist Gewaltlosigkeit. Doch das ist eine verkürzte Sicht von Gewalt, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Ein bisschen Nachdenken und Hineinschauen in die Geschichte kann so manches klarer sehen lassen.
Nach Martin Luther (1483 – 1546, Reformator) hat alle Gewalt ihren Ursprung in der göttlichen Ordnung. In der Welt erscheint sie nach Luthers Zwei-Reiche-Lehre als weltliche Gewalt (im Symbol des Schwertes) oder als geistliche Gewalt, die sich im Wort ausdrückt. Der geistlichen Gewalt fehlt das Moment der Herrschaft, sie bestehet allein im Predigtamt. Und eine Predigt kann ja auch schon ganz schon gewaltig sein, so zeigt die Erfahrung, siehe Stichwort "Höllenpredigt". Luther meint nun, der Versuch, Glauben zu erzwingen, ist ein Übergriff weltlicher Gewalt auf die Wirksphäre des göttlichen Willens. Dann sagt er: "Der Obrigkeit soll man nicht widerstehen mit Gewalt, sondern nur mit Bekenntnis der Wahrheit". Also: klare Trennung in Staatsgewalt und der Macht des Wortes.
Nach Hugo Grotius (holländischer Philosoph 1583-1645; Gegenpol zu Machiavelli) ist Gewalt legitim, "solange sie nicht das Recht eines anderen verletzt". Für ihn gilt Gewalt nicht an sich als Quelle des Unrechts, sondern jeder Mensch hat zunächst einen naturrechtlich begründeten Raum eigener Gewalt, die erst dann unrechtmäßig wird, wenn sie auf die Rechtssphäre eines anderen Menschen übergreift, aber daneben gibt es noch die legitimierte Gewalt, die durch die Einführung der Gerichtsbarkeit eingeschränkt ist.
Bei Immanuel Kant (1724 – 1804, beschäftigt sich mit Erkenntnisart der Gegenstände) bedarf die Macht nicht der Gewalt oder die Gewalt der Macht, um sich durchzusetzen, sondern beide sind nur, insofern sie sich durchsetzen. Es ist also zur Einrichtung eines Rechtszustandes keineswegs erforderlich, dass die Gewalt mit physischer Vernichtung einhergeht. Das Recht beweist seine Gewalt, ohne Gewalt ausüben zu müssen. Zu Kant kann man anmerken, dass er uns darauf aufmerksam macht, dass es Gewalt immer gibt und ihre eigentliche Stärke darin liegt, einfach da zu sein, um so seine Wirkung zu zeigen. Wahrgenommen wird sie nach außen, wenn sie aktiv werden muss.
Viele Gesetze entstehen, d.h. der Staat übt Gewalt aus, weil eben ein gerechter Zustand nicht von allen eingesehen wird, sondern Rechtslücken ausgenützt werden. Oder sehen Sie sich die Diskussion um die Gehältererhöhung der Führungskräfte der großen Unternehmen an, während auf der anderen Seite der kleine Mann bluten muss; kein Wunder, wenn der Ruf nach dem Staat laut wird. Oder: Gewalt in Familien und gegenüber Kindern kann in Gewalttätigkeit übergehen – Eltern haben erzieherische Gewalt und sollten sich dessen auch bewusst sein. Es kommt dann auf die Ausübung der Gewalt an. In der Schule gibt es die Gewalt als Lehrkraft, ihr ist es aber verboten, sie in eine Watsch´n umzusetzen.
Der Begriff "Gewalt" stört uns wohl nur deswegen, weil wir darunter immer seine negative Auswirkung verstehen, nicht sein positives Vorhandensein. Nach Hegel (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770 – 1831, Dialektische Methode) ist Gewalt die Erscheinung der Macht. Und so hat der Staat für Ordnung zu sorgen. Karl Marx (1818 – 1883) macht dann keinen Unterschied mehr zwischen der offiziellen Gewalt und der revolutionären Gewalt des Proletariats, die als Befreiung von Unterdrückung gerechtfertigt ist.
Nach A. Vierkandt ist Gewalt der jeweils nur sehr kurze Zustand der Unterbrechung der Geltung des Rechts; um mit dem Recht verträglich zu werden. Es geht auch ihm um die Ordnung setzende Funktion des Staates. Gewalt als Resultat erfolgreicher Durchsetzung von Ordnung oder als gewalttätiges Handeln zeigt sich allein in der Bewährung im Konflikt, so Theodor Litt.
W. Benjamin (1892-1940, Frankfurter Schule, Kritische Theorie) ergänzt die rechtssetzende und die rechtserhaltende Gewalt um die göttliche Gewalt. Sie ist für ihn die Waltende, nie Mittel heiliger Vollstreckung. Jean Paul Sartre (1905-1980, Existentialismus) studiert das Problem der Gewalt am Verhältnis von Gewalt und Gruppe. Innerhalb der Gruppe hat so Gewalt den internen Zweck der Verbrüderung. Sie wird zum Terror, sofern der äußere Druck, der die Gruppe zum Zusammenhalt zwingt, nachlässt.
In der Geschichte der Religionen wird Gewalt als Übermächtigkeit des Göttlichen erfahren und durch Opfer bewältigt. Auch der Hinduismus kennt neben dem Gewaltverzicht eine kastenspezifische Gewaltanwendung, man findet sie auch in den Schriften Gandhis, während im Buddhismus eine Verletzung jeglichen lebenden Wesens ausgeschlossen ist; Erleiden kann aber auch Gewalt an sich sein, uns so begann auch der Weg Buddhas. Der Koran kennt Gewalt als legitimes Mittel der Ausbreitung des Herrschaftsbereiches des Islam vorwiegend im Sinn einer besonderen Anstrengung.
Biblisch wird gesagt, dass allem Seienden eine Mächtigkeit zukommt, deren Einsatz sich allein in der Verantwortung vor Gott richtig gestaltet. Um Ordnung in seinem Sinn zu schaffen, wird Gott dann als ordnender Gott zu Hilfe gerufen oder Erfolg ihm zugute geschrieben. Es gibt nach der Bibel kein Ende der sündigen Welt und damit der Gewalt, aber im Gewaltverzicht Jesu als Sohn Gottes manifestiert sich die Liebe, am deutlichsten im absoluten Gewaltverzicht in Leiden, Tod und Auferstehung. Jede Vergeltung, jeder Gewaltgebrauch steht unter dem Vorbehalt des Gerichts Gottes. Die Gewalt in der Bibel zeigt sich im Maß der Liebe. Um auf Immanuel Kant zurückzugreifen: Es gibt eine Befugnis zu zwingen, insofern damit menschenverachtende und friedenszerstörende Gewalttätigkeit überwunden wird in Richtung Frieden und Liebe. Gewalt im Sinne einer Rechtsdurchsetzung gehört zur Schöpfung, weil sie noch nicht von der Finsternis des Verderbens befreit ist. Dabei tritt der funktionale Charakter des Rechts als eines reinen Konfliktlösungsinstruments um so stärker hervor, je mehr die Konfliktlösung dem Recht übergeben ist.
Diese Art von Diskussion um Gewalt als Staatsgewalt wurde besonders in Deutschland geführt. Als Domäne privater Gewalt bleibt nur die Erziehung in der Familie. Das ist auch unser Erbe. Zwischen Familiärer Gewalt und obrigkeitlicher Gewalt besteht ein Vakuum, das dann die Zivilcourage füllen soll, die aber nicht abgesichert ist, aber vielfach beschworen wird. Unsere derzeitige Diskussion schaut auf die familiäre Gewalt im Sinn negativer Gewalt, also Schläge, und setzt als Mittel dagegen die staatliche Gewalt, manchmal verbunden mit noch gewaltigerem Handeln. Und was gibt es dazwischen?
Ich glaube, hier tut sich ein Thema auf: Wie verhalten wir uns im Angesichte gewalttätiger Auseinandersetzungen? Selbstverteidigungskurse, Hilfe rufen, Polizei, sich mit anderen zusammentun, Anschreien, Besonnenheit, nicht reizen, Abwägen, Nachbarschaft. Alles gute Vorschläge. In Fällen, die zeitungsrelevant werden, funktionierten sie nicht. Ich versteige mich zu der Behauptung, dass um so mehr Gewalttätigkeit entsteht, je mehr Gewalt dem Staat übertragen wird. Dies zeigt die Geschichte. Und was heißt das auch für die Erziehungsgewalt?
Ich stelle lieber die Frage: wie steht es mit der Liebe als Einwirkungsinstrument auf die Gestaltung des Rechts? Das Recht kommt endlich dort an, wo die Liebe schon ist – beim Menschen als Person. Da ist schon vieles geschehen und geschieht noch: Abschaffung der Sklaverei und Folter, der Todesstrafe, Humanisierung des Strafvollzugs, Menschenrecht und individuelle Freiheitsrechte, soziale Verantwortung, Gewaltenteilung im Staat. Und doch stoßen wir an Grenzen, wenn Gewalt sich äußert wie in den vergangenen Wochen. Diese Grenzen sieht die Bibel, ja viele Religionen im Menschsein, das noch nicht göttlich ist.
Alle 5 großen Weltreligionen haben von ihrer Entstehungsgeschichte her eine gemeinsame Zielrichtung: Sie wollen die Vergöttlichung der in den Naturabläufen zum Ausdruck kommenden und von den Menschen nachgeahmten Gewalt überwinden und das Göttliche als ethisch wirksame welttranszendente Wirklichkeit verehren. In ihrer Geschichte haben Religionen dabei immer auch ein unterschiedliches Gesicht gezeigt. Sich weltlicher Gewalt zur Vergöttlichung der Welt zu bedienen, dieser Gefahr können sie leicht erliegen.
Durch die Gewaltproblematik wird deutlich, dass die Menschheit ihr eigenes Geschick nie in Händen hat. Sie ist Mächten ausgeliefert, die zwar stark von ihr ausgehen und durch die sie aber dennoch überfordert wird. Sicherheit im absoluten Sinn gibt es keine, auch wenn man sie versprechen würde. Im Menschen steckt die Gewalt wie ein Virus. Weh, er kommt negativ zum Ausbruch. Was könnte der Antivirus sein? Gewaltiges Handeln muss immer auch die Liebe implizieren, sonst wird sie selbst gewalttätig. Gewalt ist nicht gleich Gewalttätigkeit. Gewalt hat etwas mit Anstrengung zu tun. Wenn der Staat Gewalt ausübt, muss er damit eine Zielrichtung verfolgen, die zu mehr Liebe führt. Paulus sagt schon im Korintherbrief: "Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand." (1 Kor 13). Das gilt für den Staat, die Gruppen, die Familie und das Zusammenleben überhaupt.
Ich wünsche Ihnen etwas von der Kraft dieser Liebe, auch in der politischen Diskussion und in ihren Freundes- und Familienkreisen. Ein gesegnetes Jahr 2008."
Ansprache des Pfarrers zum Neujahrsempfang 2008
Neujahrsgedanken von Pfarrer Alois Ebersberger:"Die Themen Gewalt und Jugendstrafrecht beherrschen derzeit Gespräche und Schlagzeilen. Auslöser war die Gewalttat in der Münchner U-Bahn. Als ich mir das Thema aussuchte, war von diesem Thema noch nicht viel die Rede. Jetzt bin ich in der Zwickmühle, in die aktuelle Diskussion einbezogen zu werden:
"Eine emotional aufgeladene Zeit" – eine Überschrift zur Erklärung einer Gewalttat an Weihnachten. Und viele Gründe familiärer Art, Gewalt in der Familie, keine schöne Kindheit, müssen als Erklärung herhalten. Umso mehr reizt dieses Thema Gewalt. Das Historische Wörterbuch zur Philosophie versteigt sich sogar zu der Aussage, dass das Phänomen der Gewalttätigkeit in zunehmendem Maße von psychoanalytisch oder ethologisch orientierten Theorien der Aggression, von Konfliktsoziologen und Friedensforschern abgehandelt wird, wobei das durch die Geschichte des Gewaltbegriffs erreichte Diskussionsniveau nicht immer erhalten bleibt.
Steigen Sie also mit mir ein in eine Sicht des Themas Gewalt, die als Quintessenz nicht darin endet: Man braucht härtere Gesetze, die jetzigen genügen, man muss nur alles besser anwenden, schneller ausweisen, die Vorfälle werden missbraucht für ... usw. Erheben wir uns ein wenig über diese Schlussfolgerungen und reduzieren Gewalt einmal nicht auf Gewalttätigkeit.
Das deutsche Wort Gewalt leitet sich aus der indogermanischen Wurzel "val", lateinisch valere, ab und heißt ursprünglich: Verfügungsfähigkeit haben. Es meint also zunächst das Vermögen zur Durchführung einer Handlung, denken wir nur, welch gewaltiger Anstrengungen es bedarf, die Klimakatastrophe abzuwenden, oder welch gewaltige Dimension eine Leistung hat, die über das übliche hinausgeht. Wir sprechen auch vom Gewaltmonopol des Staates, um etwa das Zusammenleben der Menschen zu regeln; und von Gewaltenteilung im demokratischen Staat.
Uns begegnet "Gewalt" als Begriff eher im negativen Sinn: als schädigende Einwirkung auf andere, unter der Formulierung Gewalttat, gewalttätige Gruppe, gewaltbereite Autonome, Gewaltverbrechen, Verherrlichung der Gewalt in Videos, Vergewaltigung oder auch seelische Gewalt. Diesem Begriff der Gewalt korrespondiert der der Gewaltlosigkeit und des gewaltfreien Widerstands, personalisiert in Mahatma Gandhi in Indien in seinem Kampf gegen die britische Herrschaft.
Der Begriff "Gewalt" ist so in Verruf gekommen und die momentan einzige Ehrenrettung ist Gewaltlosigkeit. Doch das ist eine verkürzte Sicht von Gewalt, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Ein bisschen Nachdenken und Hineinschauen in die Geschichte kann so manches klarer sehen lassen.
Nach Martin Luther (1483 – 1546, Reformator) hat alle Gewalt ihren Ursprung in der göttlichen Ordnung. In der Welt erscheint sie nach Luthers Zwei-Reiche-Lehre als weltliche Gewalt (im Symbol des Schwertes) oder als geistliche Gewalt, die sich im Wort ausdrückt. Der geistlichen Gewalt fehlt das Moment der Herrschaft, sie bestehet allein im Predigtamt. Und eine Predigt kann ja auch schon ganz schon gewaltig sein, so zeigt die Erfahrung, siehe Stichwort "Höllenpredigt". Luther meint nun, der Versuch, Glauben zu erzwingen, ist ein Übergriff weltlicher Gewalt auf die Wirksphäre des göttlichen Willens. Dann sagt er: "Der Obrigkeit soll man nicht widerstehen mit Gewalt, sondern nur mit Bekenntnis der Wahrheit". Also: klare Trennung in Staatsgewalt und der Macht des Wortes.
Nach Hugo Grotius (holländischer Philosoph 1583-1645; Gegenpol zu Machiavelli) ist Gewalt legitim, "solange sie nicht das Recht eines anderen verletzt". Für ihn gilt Gewalt nicht an sich als Quelle des Unrechts, sondern jeder Mensch hat zunächst einen naturrechtlich begründeten Raum eigener Gewalt, die erst dann unrechtmäßig wird, wenn sie auf die Rechtssphäre eines anderen Menschen übergreift, aber daneben gibt es noch die legitimierte Gewalt, die durch die Einführung der Gerichtsbarkeit eingeschränkt ist.
Bei Immanuel Kant (1724 – 1804, beschäftigt sich mit Erkenntnisart der Gegenstände) bedarf die Macht nicht der Gewalt oder die Gewalt der Macht, um sich durchzusetzen, sondern beide sind nur, insofern sie sich durchsetzen. Es ist also zur Einrichtung eines Rechtszustandes keineswegs erforderlich, dass die Gewalt mit physischer Vernichtung einhergeht. Das Recht beweist seine Gewalt, ohne Gewalt ausüben zu müssen. Zu Kant kann man anmerken, dass er uns darauf aufmerksam macht, dass es Gewalt immer gibt und ihre eigentliche Stärke darin liegt, einfach da zu sein, um so seine Wirkung zu zeigen. Wahrgenommen wird sie nach außen, wenn sie aktiv werden muss.
Viele Gesetze entstehen, d.h. der Staat übt Gewalt aus, weil eben ein gerechter Zustand nicht von allen eingesehen wird, sondern Rechtslücken ausgenützt werden. Oder sehen Sie sich die Diskussion um die Gehältererhöhung der Führungskräfte der großen Unternehmen an, während auf der anderen Seite der kleine Mann bluten muss; kein Wunder, wenn der Ruf nach dem Staat laut wird. Oder: Gewalt in Familien und gegenüber Kindern kann in Gewalttätigkeit übergehen – Eltern haben erzieherische Gewalt und sollten sich dessen auch bewusst sein. Es kommt dann auf die Ausübung der Gewalt an. In der Schule gibt es die Gewalt als Lehrkraft, ihr ist es aber verboten, sie in eine Watsch´n umzusetzen.
Der Begriff "Gewalt" stört uns wohl nur deswegen, weil wir darunter immer seine negative Auswirkung verstehen, nicht sein positives Vorhandensein. Nach Hegel (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770 – 1831, Dialektische Methode) ist Gewalt die Erscheinung der Macht. Und so hat der Staat für Ordnung zu sorgen. Karl Marx (1818 – 1883) macht dann keinen Unterschied mehr zwischen der offiziellen Gewalt und der revolutionären Gewalt des Proletariats, die als Befreiung von Unterdrückung gerechtfertigt ist.
Nach A. Vierkandt ist Gewalt der jeweils nur sehr kurze Zustand der Unterbrechung der Geltung des Rechts; um mit dem Recht verträglich zu werden. Es geht auch ihm um die Ordnung setzende Funktion des Staates. Gewalt als Resultat erfolgreicher Durchsetzung von Ordnung oder als gewalttätiges Handeln zeigt sich allein in der Bewährung im Konflikt, so Theodor Litt.
W. Benjamin (1892-1940, Frankfurter Schule, Kritische Theorie) ergänzt die rechtssetzende und die rechtserhaltende Gewalt um die göttliche Gewalt. Sie ist für ihn die Waltende, nie Mittel heiliger Vollstreckung. Jean Paul Sartre (1905-1980, Existentialismus) studiert das Problem der Gewalt am Verhältnis von Gewalt und Gruppe. Innerhalb der Gruppe hat so Gewalt den internen Zweck der Verbrüderung. Sie wird zum Terror, sofern der äußere Druck, der die Gruppe zum Zusammenhalt zwingt, nachlässt.
In der Geschichte der Religionen wird Gewalt als Übermächtigkeit des Göttlichen erfahren und durch Opfer bewältigt. Auch der Hinduismus kennt neben dem Gewaltverzicht eine kastenspezifische Gewaltanwendung, man findet sie auch in den Schriften Gandhis, während im Buddhismus eine Verletzung jeglichen lebenden Wesens ausgeschlossen ist; Erleiden kann aber auch Gewalt an sich sein, uns so begann auch der Weg Buddhas. Der Koran kennt Gewalt als legitimes Mittel der Ausbreitung des Herrschaftsbereiches des Islam vorwiegend im Sinn einer besonderen Anstrengung.
Biblisch wird gesagt, dass allem Seienden eine Mächtigkeit zukommt, deren Einsatz sich allein in der Verantwortung vor Gott richtig gestaltet. Um Ordnung in seinem Sinn zu schaffen, wird Gott dann als ordnender Gott zu Hilfe gerufen oder Erfolg ihm zugute geschrieben. Es gibt nach der Bibel kein Ende der sündigen Welt und damit der Gewalt, aber im Gewaltverzicht Jesu als Sohn Gottes manifestiert sich die Liebe, am deutlichsten im absoluten Gewaltverzicht in Leiden, Tod und Auferstehung. Jede Vergeltung, jeder Gewaltgebrauch steht unter dem Vorbehalt des Gerichts Gottes. Die Gewalt in der Bibel zeigt sich im Maß der Liebe. Um auf Immanuel Kant zurückzugreifen: Es gibt eine Befugnis zu zwingen, insofern damit menschenverachtende und friedenszerstörende Gewalttätigkeit überwunden wird in Richtung Frieden und Liebe. Gewalt im Sinne einer Rechtsdurchsetzung gehört zur Schöpfung, weil sie noch nicht von der Finsternis des Verderbens befreit ist. Dabei tritt der funktionale Charakter des Rechts als eines reinen Konfliktlösungsinstruments um so stärker hervor, je mehr die Konfliktlösung dem Recht übergeben ist.
Diese Art von Diskussion um Gewalt als Staatsgewalt wurde besonders in Deutschland geführt. Als Domäne privater Gewalt bleibt nur die Erziehung in der Familie. Das ist auch unser Erbe. Zwischen Familiärer Gewalt und obrigkeitlicher Gewalt besteht ein Vakuum, das dann die Zivilcourage füllen soll, die aber nicht abgesichert ist, aber vielfach beschworen wird. Unsere derzeitige Diskussion schaut auf die familiäre Gewalt im Sinn negativer Gewalt, also Schläge, und setzt als Mittel dagegen die staatliche Gewalt, manchmal verbunden mit noch gewaltigerem Handeln. Und was gibt es dazwischen?
Ich glaube, hier tut sich ein Thema auf: Wie verhalten wir uns im Angesichte gewalttätiger Auseinandersetzungen? Selbstverteidigungskurse, Hilfe rufen, Polizei, sich mit anderen zusammentun, Anschreien, Besonnenheit, nicht reizen, Abwägen, Nachbarschaft. Alles gute Vorschläge. In Fällen, die zeitungsrelevant werden, funktionierten sie nicht. Ich versteige mich zu der Behauptung, dass um so mehr Gewalttätigkeit entsteht, je mehr Gewalt dem Staat übertragen wird. Dies zeigt die Geschichte. Und was heißt das auch für die Erziehungsgewalt?
Ich stelle lieber die Frage: wie steht es mit der Liebe als Einwirkungsinstrument auf die Gestaltung des Rechts? Das Recht kommt endlich dort an, wo die Liebe schon ist – beim Menschen als Person. Da ist schon vieles geschehen und geschieht noch: Abschaffung der Sklaverei und Folter, der Todesstrafe, Humanisierung des Strafvollzugs, Menschenrecht und individuelle Freiheitsrechte, soziale Verantwortung, Gewaltenteilung im Staat. Und doch stoßen wir an Grenzen, wenn Gewalt sich äußert wie in den vergangenen Wochen. Diese Grenzen sieht die Bibel, ja viele Religionen im Menschsein, das noch nicht göttlich ist.
Alle 5 großen Weltreligionen haben von ihrer Entstehungsgeschichte her eine gemeinsame Zielrichtung: Sie wollen die Vergöttlichung der in den Naturabläufen zum Ausdruck kommenden und von den Menschen nachgeahmten Gewalt überwinden und das Göttliche als ethisch wirksame welttranszendente Wirklichkeit verehren. In ihrer Geschichte haben Religionen dabei immer auch ein unterschiedliches Gesicht gezeigt. Sich weltlicher Gewalt zur Vergöttlichung der Welt zu bedienen, dieser Gefahr können sie leicht erliegen.
Durch die Gewaltproblematik wird deutlich, dass die Menschheit ihr eigenes Geschick nie in Händen hat. Sie ist Mächten ausgeliefert, die zwar stark von ihr ausgehen und durch die sie aber dennoch überfordert wird. Sicherheit im absoluten Sinn gibt es keine, auch wenn man sie versprechen würde. Im Menschen steckt die Gewalt wie ein Virus. Weh, er kommt negativ zum Ausbruch. Was könnte der Antivirus sein? Gewaltiges Handeln muss immer auch die Liebe implizieren, sonst wird sie selbst gewalttätig. Gewalt ist nicht gleich Gewalttätigkeit. Gewalt hat etwas mit Anstrengung zu tun. Wenn der Staat Gewalt ausübt, muss er damit eine Zielrichtung verfolgen, die zu mehr Liebe führt. Paulus sagt schon im Korintherbrief: "Die Liebe erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand." (1 Kor 13). Das gilt für den Staat, die Gruppen, die Familie und das Zusammenleben überhaupt.
Ich wünsche Ihnen etwas von der Kraft dieser Liebe, auch in der politischen Diskussion und in ihren Freundes- und Familienkreisen. Ein gesegnetes Jahr 2008."
06.01.2008 | Ihre Meinung dazu... | nach oben | zurück